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Die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), früher "Hyperkinetisches Syndrom"(2)

von Dr. Klaus Skrodzki, Forchheim

Der Symptomenkomplex in den verschiedenen Altersstufen

Das Erscheinungsbild dieser Kinder (Symptomenkomplex) soll in den verschiedenen Altersgruppen beschrieben werden, wobei nochmals betont sei, dass stets nur ein Teil der beschriebenen Symptome auf ein Kind zutrifft und das Erscheinungsbild sehr variabel ist.

Säuglingsalter:

Viele dieser Kinder schreien oft ungewöhnlich viel, ausdauernd und besonders schrill und sind in ununterbrochener Bewegung, quengelig, reizbar, werden schnell wütend und schätzen körperlichen Kontakt wenig. Selten wirken sie entspannt, meist missmutig und unzufrieden und sorgen für erhebliche Schlafstörungen der Eltern. Wenn die Eltern mit ihnen schmusen wollen, schmiegen sie sich nicht an. Die Mutter wird durch diese Verhaltensweise verunsichert und fragt sich „Mach ich etwas falsch? Ich muss mich wohl mehr um das Kind kümmern!“ Aber auch vermehrte mütterliche Zärtlichkeit wird wenig erwidert und für so manche Mutter ergeben sich daraus Probleme, und das Kind wird als schwierig bezeichnet. In der Familie herrscht Gespanntheit, nervöse Gereiztheit und eine gewisse Frustriertheit vor.

Kleinkindesalter:

Meist besteht eine ausgeprägte Trotzphase. Typisch ist eine Erprobungsphase, die für die Umwelt besonders strapaziös ist: Die Eltern berichten, dass das Kind die Fähigkeit habe, aus jeder Situation ein »Happening« zu machen, d. h. alles, was es in die Hände bekommt wird zerlegt und im Vorbeigehen um- oder ausgeschüttet oder in einer Weise damit verfahren, dass es speziell sinnwidrig ist und für die Eltern in Arbeit ausartet. Sinnvolles, konstruktives Spielen entwickelt sich kaum, die Spiele sind vor allem destruktiv und chaotisch. Das Kind läuft häufig weg, klettert über den Zaun und auf die Straße, gefährdet sich selbst. Wenn Besuch kommt oder anderswo ein Besuch gemacht wird, muss das Kind ständig beobachtet und alles verschlossen werden. All diese Dinge treten bei anderen Kindern auch auf, aber nicht so im Übermaß. Oft vermeiden die Eltern Besuche und werden zunehmend isoliert. Wenn das Kind in den Kindergarten kommt, baut es keine Bauklotztürmchen, setzt kein Puzzle konstruktiv zusammen, sondern es zerstört nur: Bauwerke der anderen werden umgeworfen, es ärgert die anderen Kinder, kann nicht alleine spielen, es spielt nicht ausdauernd. Kein Spielzeug wird mehr als einige Minuten und damit nicht sinnvoll benutzt und oft sagt es „mir ist langweilig“. Die Kindergärtnerin berichtet, dass es Gruppenspiele nicht mitmacht, oft in der Einzelspielecke sitzt oder dass es ständig zappelt, herumrutscht und nie entspannt ist. Als Folge werden Eltern des Öfteren in den Kindergarten bestellt und ermahnt, konsequenter in der Erziehung und aufmerksamer zu sein, da das Kind erhebliche Störungen aufweise. Es wird gesagt: „Das Kind ist ungezogen, sie müssen strenger sein“. Zum Kinderarzt kommen die Eltern mit auffallendem Essverhalten: „Es frisst bedenkenlos alles in sich hinein“, oder „es isst nur ganz wenige spezielle Dinge“, mit Schlafstörungen: „Es kann keinen Abend einschlafen, jede Nacht kommt es zu uns, und wenn es dann bei uns ist, ist es so unruhig, dass wir selbst nicht schlafen können“; „Wenn es in den Raum kommt, verbreitet es Unruhe, wir werden alle nervös“. „Es kann sich nicht selbst anziehen, zieht alles verkehrt herum an, macht nie einen Knopf zu“ und es gibt Probleme mit der Sauberkeitserziehung. Wer die Kinder nur gelegentlich oder kurzzeitig erlebt, sieht keine Probleme: Benjamin, Thomas oder Florian geht mit der Oma oder der Tante weg und ist für einen halben Tag das liebste Kind und die Eltern bekommen zu hören: „Seht ihr, wenn er will, dann kann er“ und „man muss nur konsequent und streng sein“.

Im Vorschulbereich sind die Probleme für die Eltern meistens noch zu bewältigen: der Kindergarten fordert noch keine so strenge Reglementierung und man erwartet, dass dieses Kind einfach von alleine reifer und vernünftiger wird. Allerdings kennen heute viele Kindergärten diese Probleme und fordern Hilfen, sowohl für ihre Gruppen, als auch Einzelmaßnahmen, für Kind, Eltern und Familie. Meist wird Frühförderung und Ergotherapie gefordert, gelegentlich auch psychologische Therapie und Medikation.

Schulalter:

Wenn das Kind in die Schule kommt, werden die Anforderungen erheblich größer. Es soll sich sozial integrieren in eine Klassengemeinschaft und soll bestimmte Spielregeln akzeptieren lernen, aber genau da liegt das Problem: In der Zweierbeziehung können einfache Regeln noch akzeptiert und verstanden werden, doch sind mehrere Kinder beteiligt, eine Gruppe, und sollen strengere Regeln - wie sie für die meisten Spiele ja gelten - eingehalten werden, so ist es nicht mehr möglich. Das Kind versucht, die Regeln nach seinem Geschmack zu ändern, und wenn die anderen nicht mitmachen, gibt es Spannung und Streit. Bereits nach kurzer Zeit kommt es zur Ablehnung durch die Kameraden, weil sie nicht bereit sind, den Herrschaftsansprüchen eines Kindes zu folgen und sie selbst ja die gültigen Spielregeln akzeptieren. Will das Kind es besonders gut machen und versucht, die Regeln einzuhalten, missglückt ihm dies. Enttäuscht fängt es an zu weinen und wird dafür von den Kameraden auch noch ausgelacht, weil es nicht gelernt hat, sich zu beherrschen. Diese Affektlabilität und Frustrationsintoleranz ist eigentlich typisch für das Kleinkindesalter. Es weint wegen Kleinigkeiten, gerät gleich in Zorn und seine Stimmung schlägt plötzlich um; es kommt zu unverschämten, provokanten und aggressiven Redeweisen. Im Schulalter ist diese Phase bei anderen Kindern meist schon überwunden, nicht jedoch bei unserer Gruppe von Kindern mit psychosozialer Entwicklungsverzögerung (früher als Hirnreifungsstörung bezeichnet) - sie sind in einem kleinkindhaftem Verhalten stehen geblieben. Wenn sie etwas wollen, muss der Wunsch sofort erfüllt werden. Sie können nicht warten, sondern kriegen wieder einen Wutanfall. Genau so schnell sind die Wünsche bei Ablenkung oft wieder vergessen. Andererseits freut sich das Kind wenig und wirkt nach außen hin traurig, missmutig, und wenn man sich mit ihm unterhält, zeigt es häufig depressive Verstimmung. Ja es ist sogar ein Kennzeichen, dass eine unglückliche Grundstimmung besteht, oft überspielt durch äußerliche Unbekümmertheit. Eltern berichten, dass sich ihr Kind „überfreut“ oder „überärgert“ hat, und es dann meistens völlig unerträglich sei.

Es handelt sich also nicht um sehr lebhafte, vergnügte, bewegungsfreudige Kinder, wie man nach dem Namen hyperaktiv – „überaktiv“ meinen könnte und wie es in der Öffentlichkeit oft auch (fälschlicherweise) gebraucht wird, sondern um Kindern, die unter ihrem Zappeln, ihren unkoordinierten und ungezielten Bewegungen und ihrer Unaufmerksamkeit und deren Folgen oft leiden.

Impulsivität und Aggressivität sind bei diesen Kindern weit verbreitet und sie scheinen manchmal keinerlei Angstgefühl zu haben: ohne schwimmen zu können, sprang Ludwig mit 3 Jahren ins tiefe Wasser; als 4-jähriger vom 3-m-Brett, als 11-jähriger Kopfsprung vom 5-m-Turm. Fahrradunfälle waren häufig, weil er Rennfahrer werden wollte. Sturz vom Baum. Beim Luftanhalten schaffte er es ohnmächtig zu werden. Beim Skifahren konnte die Mutter nicht mehr mitgehen, weil er so wild und gefährlich den Hang hinunterraste. Es gibt aber auch  Überängstliche, oft motorisch ungeschickt, die sich nicht von den Eltern trennen können und mit ihrer Unsicherheit die Überbehütung durch die Eltern herausfordern.

Die Impulsivität geht so weit, dass diese Kinder in der Schule den Finger heben zur Antwort, ehe die Frage fertig gestellt ist und oft ist es ihnen lieber, überhaupt eine Antwort zu geben, als die richtige. Wenn sie nicht drankommen, platzen sie mit ihrer Antwort einfach so heraus. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist außerordentlich kurz. So wie sie früher kein Puzzle fertig machen konnten und keinen Turm mit mehr als 4 oder 5 Klötzen bauten, so wird später keine Zeichnung fertig. Im Basteln und Spiel wird alles angefangen – „sie sind sehr unternehmungslustig“ - aber nichts zu Ende geführt. Es liegen Dutzende von angefangenen Schiffs-, Flug- und sonstigen Modellen herum und keine Handarbeit kommt soweit, dass sie zum vorgesehenen Zweck angewendet werden kann. Das gleiche gilt für die Hausaufgaben: da die Aufmerksamkeitsspanne so sehr kurz ist, fällt dem Kind ständig etwas Neues ein: es muss sich am Bein kratzen, das Lineal aufheben, den Radiergummi anders hinlegen, den Bleistift spitzen, aus dem Fenster gucken: „da ist eine Schwalbe“, das Eselsohr im Buch herausblättern oder ein Neues auf der anderen Seite hineinknicken, auf der Seite vorher nachgucken, wie die Aufgabe gestern war und den Hamster füttern. Als Folge gehen die Hausaufgaben nicht voran, sie werden schlecht gemacht und benötigen außerordentlich lange Zeit. Genau das gleiche  erlebt der Lehrer im Unterricht: da die Aufmerksamkeitsspanne nicht groß genug ist, sieht, hört und fühlt das Kind ständig neue Dinge – und handelt auch danach.

Man darf nun nicht glauben, dass alle Kinder dieser Krankheitsgruppe wirklich ein hyperaktives Verhalten zeigen. Es gibt durchaus auch das Gegenteil: die Hypoaktiven, das sind Kinder, die überhaupt nicht herumzappeln und nicht unruhig wirken, eher apathisch. Sie fallen auf diese Weise zwar weniger auf, aber sie haben alle anderen Störungen (erinnern Sie sich an die 7 Punkte zu Anfang): Störungen der Konzentrationsfähigkeit, abnormes Sozialverhalten, sind ruppig bis explosiv und wirken nach außen hin unbegabt, leistungsschwach und sozial isoliert. Das trifft besonders oft für Mädchen zu. Sie zeigen weniger oft motorische Unruhe als die Jungen.

Adoleszentenalter:

Bei vielen ADS-Kindern tritt die Pubertät später auf als bei den Gleichaltrigen. Das passt zu ihrer psychosozialen Reifungsverzögerung. Dann aber erscheinen alle Probleme der Vorpubertät und Pubertät in verstärktem Maße. Die Ablehnung der Umwelt ist durch das erheblich gestörte Selbstwertgefühl stärker als üblich. Die Schwierigkeiten und Streitigkeiten mit den Eltern, der Widerspruchsgeist im Ablösungsversuch von der Familie nehmen Formen an, die unerträglich werden. Oft besteht Selbstgefährdung, tiefe Depression bis hin zu Selbstmordgedanken, Neigung zu Asozialität, Kriminalität und Drogensucht und immer wieder finden sich kleinkindhafte Verhaltensweisen, wenn z. B. der 14-jährige aus dem Badezimmervorhang die dunklen Karos des Musters ausschneidet!

Aus der Hyperaktivität wird jetzt häufig eine „Nullbock“-Mentalität d. h. sie haben keinerlei Interesse, keinen Antrieb etwas anzufangen, geschweige denn eine Arbeit oder Aufgabe zu Ende zu bringen. Die Berufswahl wird zur Katastrophe, da sie eigentlich gar nichts interessiert oder höchstens etwas, das sie mit ihren bisherigen schulischen Leistungen nicht erlernen können. In der Berufsausbildung haben sie es besonders schwer, weil sie oft muffig, schlecht gelaunt und faul wirken. Wenn sie dann auch noch frech und vorlaut sind, ist das Arbeitsverhältnis oft sehr schnell wieder gelöst. Wenn man frühzeitig Interessen und Hobbys unterstützt hat, kommen diese jetzt manchmal zum Tragen und können von großem Nutzen für die Berufswahl sein, da auf Lieblingsgebieten bei diesen Jugendlichen oft ein ganz erstaunliches Wissen besteht.

Im Erwachsenenalter:

Schwierigkeiten mit Aufmerksamkeit und Konzentration bleiben bestehen. Aus Hyperaktivität wird jetzt teilweise Inaktivität, gepaart mit Nervosität. Weiter bestehen Stimmungsschwankungen, ausgeprägte psychische Labilität mit stark schwankender Emotion und Impulsivität (geschäftlich, finanziell, privat), die zu unüberlegten Entscheidungen führt, zu Ungeduld und Jähzorn und leider oft zur Unfähigkeit sich und das Leben zu organisieren.

Die niedrige Stresstoleranz, fehlende Ausdauer, Egoismus z. T. gepaart mit unbegrenzter Großzügigkeit, führen zu Unzuverlässigkeit und schnell wechselnde Freundschaften und Bindungen. Suchttendenzen (Spiel-, Kauf-, Drogen-, Alkohol-) können schließlich Beruf und Karriere zerstören.

Häufig bestehen viele positiven Eigenschaften wie Phantasie, Kreativität, Hilfsbereitschaft, grenzenlose Einsatzbereitschaft, Spontaneität und Wärme, die aber leider in unserer Gesellschaft oft nicht hoch genug bewertet werden, um ihre Schwierigkeiten auszugleichen.

Zusammenfassung:

Fassen wir noch einmal die wichtigsten Punkte zusammen, die diese Kinder behindern und den Umgang mit ihnen schwierig und aufreizend machen: Hyperaktivität oder Inaktivität zur falschen Zeit, Träumen und Unaufmerksamkeit, Ablenkbarkeit, Impulsivität mit vermehrte Reizbarkeit, Störverhalten, Trödeln und nervenzehrende Langsamkeit, Frustrationsintoleranz und Diskrepanz zwischen Intelligenz und Leistung. Als Folge bestehen nahezu immer Schul- und Berufsschwierigkeiten. Wenn zusätzlich noch Teilleistungsstörungen bestehen, wie z. B. Lese-, Rechtschreib-, Rechenschwäche, Koordinations- und Wahrnehmungsstörungen der verschiedensten Art, haben die Kinder und Jugendlichen trotz normaler Intelligenz allergrößte Schwierigkeiten in der Schullaufbahn. (Der berühmte Erfinder T. A. Edison hatte eine ausgeprägte Lese/ Rechtschreibschwäche!). Oft landen sie schließlich in Sonderschulen und in Anlernberufen, und finden ihre „Freunde“ nur noch in Drogen- und kriminellen Kreisen. Dann beschränkt sich ihr Vergnügen auf das Suchen von „gefährlichen“ Situationen (S- Bahn - Surfen, Autorennen,u.ä.), Computer- und anderen Spielen.

Häufigkeit:

In allen Ländern, in denen bisher Untersuchungen zur Häufigkeit r ADHS durchgeführt wurden, fand man zwischen 5 und 14 % verhaltensauffällige Kinder. Unterschiede bestanden nach Beurteilern, also Ärzten, Lehrern, Erziehern oder Eltern; der Unterschied zwischen den Kulturen - USA, Kanada, ehemalige DDR, Neuseeland, Rotchina oder auch bei den Hopi-Indianern im Reservat - war nicht signifikant. Realistisch sind ca. 5% Betroffene, wobei Jungen ca. 5  mal so häufig betroffen sind wie Mädchen (zumindest im Kindesalter, später gleicht sich das Verhältnis zunehmend an). Auffallend ist eine deutliche familiäre Häufung mit z.B. gemeinsamer Betroffenheit von eineiigen Zwillingen.

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