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Ratgeber ADHS

Informationen für Betroffene, Eltern, Lehrer und Erzieher zu Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen

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Ratgeber ADHS
Manfred Döpfner, Jan Frölich, Tanja Wolff Metternich-Kaizmann
Verlag
Hogrefe, 3. Auflage 2019
ISBN-Nummer
978-3-801-73015-4
Preis
7,95 €
Kaufen bei Diana Künne, Pädagogischer Verlag und Buchhandlung

Prof. Dr. sc. hum., Dipl.-Psych. Manfred Döpfner, geb. 1955. Seit 1989 Leitender Psychologe an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln und dort seit 1999 Professor für Psychotherapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Döpfner ist vielzitierter Verfasser zahlreicher Publikationen u. a. zum Thema ADHS.

PD Dr. med. Dr. päd. Jan Frölich, geb. 1963. Seit 2003 als niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Stuttgart tätig. Frölich war Mitarbeiter und Co-Autor Döpfners und verschiedener anderer Autoren kinder- und jugendpsychiatrischer Werke.

Dr. rer. medic. Dipl.-Psych. Tanja Wolff Metternich, geb. 1968. Seit 1995 wisschenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln.

Thema

ADHS, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, gilt unter ADHS-Experten als die häufigste psychiatrische Störung im Kindes- und Jugendalter. Vorläuferbegriffe waren MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion; mit noch wenig Erkenntnissen zur Neurobiologie) und HKS (Hyperkinetisches Syndrom bzw. Hyperkinetische Störungen). Während die motorische Hyperaktivität lange Zeit im Vordergrund der Wahrnehmung des Syndroms stand und deren Verminderung in der Jugendzeit zur falschen Annahme führte, es wachse sich mit der Zeit aus, steht seit geraumer Zeit fest, dass ADHS zu einem erheblichen Teil im Erwachsenenalter in veränderter Form und Ausprägung bestehen bleibt. Zudem führte das am meisten auffallende Symptom zum gebräuchlichen Synonym »Hyperaktivität«. Die nicht als motorisch besonders unruhig erlebten Menschen mit ADHS, die eine Zeit lang als »hypoaktiv«, heute zunehmend als verträumte ADHS-Betroffene (»Träumer«) bezeichnet werden, blieben infolgedessen in der Vergangenheit meist und bleiben derzeit noch oft unerkannt. Klischeehaft steht hier das überangepasste verträumte Mädchen, oft depressiv und Opfer von Mobbing, als Prototyp, obwohl auch Jungen, vermutlich seltener, unter dieser Form von ADHS leiden.

Die seit Jahren anhaltende Kontroverse um ADHS, ihre Verursachung und ihre medikamentöse Therape, bildet, unabhängig von der Profession, eine Kluft hauptsächlich zwischen jenen, die mit ADHS-Betroffenen leben und/oder intensiv therapeutisch arbeiten einerseits und denen, die ADHS aus anderen Gründen und theoretischem Interesse zu ihrem Thema machen. Die ablehnende Haltung gegenüber dem Problem ADHS bzw. der als »etikettierend« bezeichneten Diagnose ADHS entspringt oft einer Grundeinstellung zur Kindesentwicklung, die stark psychoanalytisch, tiefenpsychologisch, bindungstheoretisch oder systemisch-familientherapeutisch geprägt ist. Nicht selten führt eine esoterisch gefärbte Weltanschauung zu Annahmen, die mit Sachinformationen nur schwer zu verändern sind. Die Rolle der Scientology Organisation, die nachprüfbar mit fachlich erscheinenden Beiträgen zur ADHS in seriös wirkenden populärwissenschaftlichen »Fachzeitschriften« Desinformation betreibt, ist selbst vielen ADHS-Praktikern wenig geläufig.

Entstehungshintergrund

Der »Ratgeber ADHS« ist die Nachfolgeausgabe des »Ratgebers Hyperkinetische Störungen« (Döpfner, M.; Frölich, J.; Lehmkuhl, G.) aus dem Jahr 2000 und wird daher auch auf die Aktualisierung des in den vergangenen Jahren gestiegenen Wissens zur ADHS hin zu prüfen sein.

Zielgruppen

Das kleine Werk richtet sich wie sein Vorgänger an Eltern, Erzieher und Lehrer, aber jetzt auch an betroffene Jugendliche. Im Vorwort wird es als Ergänzung zum Leitfaden über hyperkinetische Störungen (Döpfner et al. 2000) vorgestellt, der für Ärzte und Psychotherapeuten gedacht und mit dem aktuell gebräuchlichen Kürzel »ADHS« zur Neuauflage in Vorbereitung ist.

Aufbau und Inhalt

Bis auf die Ersetzung des Begriffes »Hyperkinetische Störungen« durch den Terminus »ADHS« stimmt das Inhaltsverzeichnis, bestehend aus 17 Gliederungspunkten und einem teils veränderten Anhang, mit der Erstausgabe überein:

1 Kennen sie das?

2 Woran erkenne ich Kinder mit ADHS-Symptomen?

3 In welchen Situationen treten diese Probleme auf?

4 Wann werden diese Auffälligkeiten als ADHS bezeichnet?

Die ersten Kapitel führen den Leser mit Illustrationen auf vier Seiten Text mit der Schilderung mehrerer syndromtypischer Alltagsschwierigkeiten kurz in das Thema ein. Neben den Kernmerkmalen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsschwäche, impulsives Verhalten und körperliche Unruhe wird das situationsübergreifende und je nach Betroffenheit stärkere oder schwächere Auftreten dargestellt.

5 Müssen in allen drei Kernbereichen Probleme auftreten?

6 Können diese Probleme auch Hnweise auf andere Störungen sein?

7 Welche weiteren Probleme treten häufig noch auf?

8 Wie ist die weitere Entwicklung?

Die Abgrenzung einer ADHS bzw. ihrer Subtypen von anderen Störungen, die zum Teil als komorbide Störungen oft mit ADHS vergesellschaftet sein können, bildet den Schwerpunkt dieser Kapitel auf gut fünf Seiten. Insbesondere die Probleme im Verhalten, beim Lernen, in der Persönlichkeitsentwicklung und auf der Beziehungsebene werden dargestellt und im Entwicklungsverlauf kurz erläutert.

9 Was sind die Ursachen?

Den Kern der anhaltenden öffentlichen Diskussion um die ADHS bildet der Streit um die Verursachung, zu dem sich der Leser eine Klärung erhofft: »Bis heute gibt es keine eindeutige und allumfassende Erklärung für die Entstehung dieser Auffälligkeiten. Allerdings sind sich die meisten Wissenschaftler einig, dass die Hautursache dieser Problematik in Veränderungen in der Funktionsweise des Gehirns zu suchen sind. (...)Allerdings beeinflussen die Bedingungen, unter denen die Kinder in der Familie, im Kindergarten und in der Schule aufwachsen, die Ausprägung und den Verlauf dieser Auffälligkeiten erheblich. (...) Neue Studien weisen darauf hin, dass erbliche Faktoren bei der Entwicklung dieser Störungen eine bedeutende Rolle spielen. Vermutlich sind sie sogar der wichtigste Faktor. Diese erblichen Faktoren lösen vermutlich die Störungen der Hirnfunktionen aus.« (S. 18f) Vermutungen auf Verursachung auffälligen Verhaltens durch gewissen Nahrungsbestandteile werden thematisiert; in die Auflage neu aufgenommen ist das Thema ungesättigte Fettsäuren.

10 In welchen Teufelskreis geraten Eltern und andere Bezugspersonen häufig?

Eine allgemein gehaltene Schilderung der ADHS-bedingt schwierigen Eltern-Kind- und Kind-Eltern-Interaktion versucht, die »Unmöglichkeit« eines normalen Miteinanders in der ADHS-Familie zu erklären. Eltern stehen hier für Bezugspersonen allgemein, also auch Erzieher und Lehrer, die fiktiven Situationen jedoch sind im häuslichen Umfeld angesiedelt. Deutlich wird, dass die ungünstigen Erfahrungen, die das ADHS-betroffene Kind macht, zur Zwangsläufigkeit werden kann, wobei die Überforderung der Bezugsperson unauswichlich scheint.

11 Was kann man tun?

Eine kurze Vorschau auf die folgenden sechs Kapitel.

12 Was können Eltern tun?

Mit dem Hinweis auf das Elternbuch »Wackelpeter und Trotzkopf« (Döpfner, Schürmann & Lehmkuhl, 2006) werden Eltern auf gut vier Seiten mit acht Grundprinzipien Tipps an die Hand gegeben, von denen bereits die Autoren sagen, dass sie leichter gesagt seien als getan.

13 Was können Lehrer tun?

Die besonderen Schwierigkeiten der Lehrkräfte mit ADHS-betroffenen Schülern in (zu) großen Klassen zu arbeiten werden betont und auf den Seiten 29 bis 34 in elf Punkten anleitend ausformuliert.

14 Was können Kinder und Jugendliche selbst tun?

Kleine Cartoons beleben diese drei Seiten, die für Kinder und Jugendliche ab zehn Jahre gedacht sind, wobei sich die Frage stellt, welcher betroffene Jugendliche überhaupt aus Einsicht gewillt und in der Lage ist, die Vorschläge zu lesen, sie zu akzeptieren und dann in planvolles Handeln umzusetzen. Mit Hilfe des Therapeuten kann das Kapitel eher eine Realisierung finden.

15 Was können Psychotherapeuten tun?

Ein kleiner Führer für Eltern zum organisatiorichen Ablauf von Psychotherapie.

16 Können Medikamente helfen?

Als »wirkungsvolle und notwendige Therapie« stellen die Autoren hier die teilweise neuen Möglichkeiten der medikamentösen Therapie vor, vorrangig mit Psychostimulanzien, auch heute noch Mittel der ersten Wahl in der medikamentösen ADHS-Therapie.

17 Gibt es noch weitere Hilfen?

Die Nennung der Selbsthilfe als erste Adresse weiterer Hilfen und dann der nichtpsychologischen therapeutischen Anlaufstellen und Lernförderstellen kann als Anerkennung der fachlichen Qualifikation der Elternselbsthilfe durch die ADHS-Experten um Döpfner verstanden werden. Neu aufgenommen in die vorliegende Ausgabe wurden Bewertungen von Nahrungsmittelergänzung, Neurofeedback und Homöopathie.

Der Anhang weist als Literatur vier Werke von Döpfner und Mitarbeitern aus und gibt eine Übersicht über das Elternbuch »Wackelpeter und Trotzkopf«.

Wichtige Adressen wurden im vorliegenden Heft reduziert auf das von Döpfner initiierte ADHS-Netz und den größten Selbsthilfeverband.

Eine 20-Punkte-Checkliste für ADHS-Symptome bildet den Schluss des Ratgebers.

Diskussion

Eine Veröffentlichung Döpfners und Mitautoren zu rezensieren und dabei nicht in uneingeschränktes Lob zu verfallen mutet an wie ein Sakrileg, gilt Döpfner doch vielen als einer »der Päpste - oder der Papst« in »Sachen« ADHS. Zugute zu halten ist dem Werk das eigentlich nicht aufzulösende Problem, auf 40 DIN-A5-Textseiten in angenehm lesbarem Schriftgrad ein hochkomplexes Syndrom in leicht verständlicher Form an eine Leserschaft zu bringen, die sich nicht mit einem der mittlerweile vielen verfügbaren »richtigen« Bücher zum Großthema ADHS befassen will - oder kann.

Als insgesamt hilfreich können die Kapitel unter »Was kann man tun?« gelten. Detaillierte Aufklärung zur medikamentösen Therapie obliegt dem behandelnden Arzt, so dass hier auf eine ausführliche Darstellung verzichtet werden konnte. Positiv zu vermerken sind die HInweise zu Psychostimulanzien (z. B. als Ritalin© selbst vielen Außenstehenden bekannt), auch zu den neuen Präparaten. Fragen zu Nebenwirkungen, Langzeitfolgen und Abhängigmachung werden kurz abgehandelt, wobei zur Abwägung für die sich sorgenden Eltern etwas Ausführlichkeit hilfreich wäre.

Ein meist sehr gut verständlicher, mitunter auch zu anspruchslos (Kap. 10) gehaltener Stil, als wolle man »schlichte» Leser - Eltern? - ansprechen, lässt ein »Überfliegen» des Heftes zu. Möglicherweise ist dies dem Wissen der Experten um den lückenhaften Wahrnemungsstil selbst ADHS-betroffener Leser geschuldet.

Ob die etwas seelenlos anmutende Sachlichkeit in der Beschreibung des ADHS-bedingten Teufelskreises lesenden Eltern das gibt, was ein Ratgeber auch zu geben hat, mögen die Leser entscheiden, die mit den Seelennöten von Eltern schwer betroffener Kinder vertraut sind.

Schwerer wiegt jedoch, dass sieben Jahre nach der Erstauflage dieses Ratgebers die in bildgebenden Verfahren und molekulargenetischen Studien gewonnen Beweise zur Genetik und zur Erblichkeit hier vorenthalten werden. Als meist diffuse Andeutung bleibt wie auch im Vorläuferheft das stehen, was doch bereits seit Jahrzehnten Zwillings- und Adoptionsstudien immer wieder ein Ergebnis »pro Genetik« erbrachte. Nicht nur wünschenswert, sondern unabdingbar ist eine klare Offenlegung dieser Fakten, solange die vielfältige ADHS-Gegnerschaft nicht ruht, vorrangig die Umwelteinflüsse für ADHS verantwortlich zu machen und damit die Eltern, besonders die Mütter angreift und ihnen Unfähigkeit unterstellt, dem Kind eine ADHS »vorbeugende« gesunde Gehirnentwicklung zu ermöglichen. Ob sich die derzeitigen Erkenntnisse zum Anteil der Genetik an der verursachung bei 60 bis 80 oder vielleicht 90 Prozent eingependelt haben, ist durchaus auch für Eltern von Interesse.

Hilfreich wären weiter Aussagen zur Nützlichkeit von analytischen Therapieformen wie Spieltherapie und zu anderen »alternativen« Therapien außer der Homöopathie, mit denen Eltern und Fachleute oft und (noch oft zu) lange Zeit die Probleme erfolglos zu lindern versuchen.

Fazit

Zu empfehlen ist der Ratgeber ADHS dem im Thema noch unkundigen Leser als eine ADHS-Fibel für erste Einblicke in ein nicht leicht zu ergründendes Problem.

Den Autoren und dem Verlag kann nur empfohlen werden, den großen Zugewinn an wissenschaftlichen Erkenntnissen zur genetischen Verursachung der ADHS bald in einer überarbeiteten, gerne ein paar Seiten stärkeren Neuauflage an die Leser weiterzugeben, denn für Lehrer, Erzieher und ebenso für Eltern und interessierte Jugendliche sind diese wissenschaftlichen Fakten bedeutsam. Ein 18. Kapitel mit einem kurzen Hinweis auf Kritiker bzw. Gegner von ADHS-Diagnose und medikamentöser Therapie könnte zu mehr Sicherheit der ADHS-Betroffenen und ihrer Familien selbst führen, sowie der Profis, die mit ihnen arbeiten.

Gerhilf Drüe

aus neue AKZENTE Nr. 78/2008