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Persönlichkeitsstörungen

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Persönlichkeitsstörungen
Fiedler, Herpertz
Verlag
Beltz
ISBN-Nummer
978-3-621-28893-4

Rezension der 6. Auflage

In dem sehr umfangreichen und profunden Buch wird zunächst die Definition der Persönlichkeitsstörungen abgehandelt. So darf die Diagnose nur dann vergeben werden, wenn die betroffene Person leidet oder sie ein Risiko der Entwicklung einer anderen psychischen Störung beinhaltet. Weiter hin darf dann eine Persönlichkeitsstörung festgestellt werden, wenn auf Grund eines erheblichen eingeschränkten psychosozialen Funktionsniveaus existentielle Verpflichtungen nicht mehr erfüllt werden bzw. Betroffene mit Ethik, Gesetz und Recht in Konflikt kommen.

Prof. Fiedler handelt ausführlich verhaltenstherapeutische und analytische Theorien zur Entstehung der Persönlichkeitsstörung historisch und auf dem neusten Stand der Forschung ab.

Keine der aufgeführten Theorien kann Anspruch auf völlige Gültigkeit erheben. Viele theoretische Ansätze sind wissenschaftlich nicht ausreichend bewiesen. Das Diathese- Stress- Konzept sieht Persönlichkeitsstörungen abhängig von der eigenen Vulnerabilität (Verletzbarkeit), mit der die besondere Empfindlichkeit und Labilität einer Person gegenüber sozialen Anforderungen und Stress gemeint ist. Hier spielen Vererbung sowie prä-, peri-, und postnatale Traumata eine Rolle. Auch psychosoziale Belastungen wie ungünstige familiäre und erzieherische Einflüsse auf die frühkindliche Entwicklung haben eine Bedeutung bei der Entstehung einer Persönlichkeitsstörung. Im Vulnerabilitäs- und Stressmodell erklärt sich die krisenhafte Zuspitzung der Persönlichkeitsstörung aus der Eskalation interpersoneller und psychosozialer gesellschaftsbedingter Konflikte und Krisen. Das bedeutet auch, dass es sehr unterschiedliche Möglichkeiten gibt, eine Persönlichkeitsstörung zu entwickeln.

Die Persönlichkeitsentwicklung setzt sich dabei im Laufe des Lebens fort und ist ein kontinuierlicher Prozess, der das ganze Leben anhält. Das betrifft auch die Möglichkeit der Veränderung und Beeinflussbarkeit der Persönlichkeitsstörung.

Genetische, biologische, psychische und soziale Bedingungen und Prozesse stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander und können einen Rahmen für die verschiedenen Perspektiven und Faktoren für die Ausbildung einer Persönlichkeitstörung bilden.

Jede noch so plausible Theorie der Persönlichkeitsstörung ist jedoch immer nur unvollkommene Orientierungshilfe, die die Entwicklung in einem Menschenleben nachzuzeichnen und zu verstehen versucht.

So bleibt die Beschreibung zur Krankheitsentstehung vorläufig und spekulativ. Beschrieben werden die folgenden Persönlichkeitsstörungen, die aktuell in den Diagnosekritierien DSM IV und ICD 10 kodiert werden:

Paranoide Persönlichkeitsstörung

Misstrauen, Feindseligkeit, hohe Empfindlichkeit gegen Kritik und Kränkung, fanatisch, querulatorisch, streitsüchtig

Schizoide Persönlichkeitsstörung

Neigung zu sozialer Isolation, Überempfindlichkeit, ausgeprägte Kühle, schroff, ablehnend, leicht verletzbar, geringe Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeit, keine engen emotionalen Bindungen, Einzelgänger

Schizotype Störung

Kann Vorläufer einer Schizophrenie sein, Borderline Schizophrenie, vage, umständliche Sprache, selbstbezogenes Denken, ungewohnte Wahrnehmungserfahrung, exzentrisch, soziale Ängste

Antisoziale Persönlichkeitsstörung

Missachtung und Verletzung der Rechte anderer, Falschheit, Lügen, reizbar, aggressiv, Rücksichtslosigkeit, verantwortungslos, fehlende Reue, Empathiestörung, geringe Frustrationstoleranz, keine Schuldgefühle, Schuld bei anderen suchen, Mangel an Angst, Suche nach Reizen

Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Grandioses Gefühl von Wichtigkeit, eingenommen von Fantasien der Macht, idealer Liebe, Glanz, Schönheit, glaubt besonders zu sein, verlangt übermäßige Bewunderung, Anspruchsdenken, ausbeuterisch, neidisch, arrogant

Borderline Persönlichkeitsstörung

Geringer sozialer Erfolg, manipulative Suizidhandlungen, Affektlabilität können dezente psychotische Symptome zeigen. Gestörte zwischenmenschliche Beziehungen, Phobien, Depersonalisation, dissoziative Störungen, vermeiden alleine zu sein, Muster instabiler aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, Impulsivität, unangemessene Affektregulation

Histrionische Persönlichkeitsstörung

Extrovertiert, ungezwungen, wollen im Mittelpunkt stehen, wenn es ihnen schlecht geht, ausgeprägtes Selbstmitleid, sex. verführerisch, provokant, rasch wechselnder oberflächlicher Gesichtsausdruck, setzt körperliche Erscheinung ein, um auf sich zu lenken, übertreiben, impressionistisch, Selbstdramatik, Theatralik

Ängstlich- vermeidende, selbstunsichere Persönlichkeit Übergroße Empfindlichkeit gegenüber Ablehnung, tiefgehendes Muster von sozialer Gehemmtheit, Insuffizienzgefühle, Überempfindlichkeit auf negative Beurteilung, Angst beschämt und lächerlich gemacht zu werden. Fühlt sich minderwertig und unterlegen. Bedürfnis nach Zuneigung, aber Angst vor Ablehnung

Dependente Persönlichkeitsstörung

Übermäßige Abhängigkeit von anderen Personen, Hilflosigkeit, wenn unabhängige Entscheidungen getroffen werden müssen. Verlassen werden kann suizidale Krise auslösen. Passivität, Unterwürfigkeit, geringes Selbstvertrauen, überstarkes Bedürfnis sozial versorgt zu werden, anklammerndes Ver halten, Trennungsängste

Zwanghafte Persönlichkeitsstörung

Ordentlich, ausdauernd, übertriebenes Interesse an den Details, strebsam, sorgfältig, perfektionistisch, übermäßige Kontrolle auf Kosten von Flexibilität, Aufgeschlossenheit und Effizienz, verlieren durch Detailbeschäftigung Wesentliches aus den Augen, Arbeit und Produktivität stehen im Vordergrund und, übermäßig gewissenhaft, skrupulös, rigide, kann nichts wegwerfen, kann nicht delegieren, geizig, konventionell, eigensinnig

Passiv aggressive Persönlichkeitsstörung (gibt es nur in den USA)

Durchgängiges Muster passiven Widerstandes gegenüber Forderung nach angemessener Leistung, widersetzt sich passiv der Erfüllung sozialer und beruflicher Routineaufgaben, beklagt sich ständig, fühlt sich zu kurz gekommen, mürrisch, streitsüchtig, übt unangemessene Kritik an Autoraritäten und Ver änderungen, Neid, Groll, beklagt sich übertrieben über sein erlittenes Unglück, feindseliger Trotz

Affektive depressive Persönlichkeitsstörung

Hypernomie, niedergeschlagen, trübsinnig, freudlos, unzulänglich, wertlos, grübeln, negativ, pessimistisch, Schuldgefühle.

Bei der Aufzählung der einzelnen Persönlichkeitsstörungen ist es schade, dass bei dem schizoiden Typ Autismus nur am Rande Erwähnung findet, wo doch ein Großteil der erwachsenen Autisten diese Diagnose erhalten. Gerade der high functioning Autismus hätte hier mehr Beachtung gebraucht.

Bei der antisozialen Persönlichkeit wird leider die Chance verpasst Gemeinsamkeiten mit ADHS darzustellen, vor allem, weil hier auch eine genetische Ätiologie nachgewiesen wurde, eine erhöhte Suchtbereitschaft und der Hauptr isikofaktor für die Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeit ein aggressives Verhalten in der Kindheit ist. Fehlende Angst und Risikobereitschaft, ebenso wie impulsives und aggressives Verhalten sind Leitsymptome der ADHS im Kindesalter.

Bei der Borderlinestörung fehlt leider auch hier wieder der Hinweis auf deutliche Überschneidungen mit ADHS, insbesondere bei dem impulsiven Typ. Gerade hier wird diskutiert, inwieweit es nicht ausgeprägte Überschneidungen zwischen ADHS und Borderlinestörungen gibt, da beide Störungen im Vordergrund eine unangemessene Affektregulation haben.

Die narzisstische Persönlichkeitsstörung ist leider etwas zu kurz geraten. Wie Prof. Fiedler immer wieder betont, ist die Abgrenzung der Persönlichkeitsstörungen zur Normalität schwierig. Es zeigen sich viele Kriterienüberlappungen. Es existiert außerdem eine hohe Komorbidität der Persönlichkeitsstörungen untereinander. Mindestens 80 % der Persönlichkeitsstörungen haben eine weitere Persönlichkeitsstörung!

Die Festlegungen auf bestimmte Persönlichkeitstypen bleiben willkürlich, ebenso die Frage, wie viele es überhaupt gibt. Die Diagnose kann über strukturierte Interviews, Fremdrating, Checklisten, Selbstbeurteilungsfragebögen gestellt werden. Es gibt aber immer noch keinen validen Standard.

Es zeigt sich ein Geschlechterbias, das bedeutet, dass histrionische- und Borderline Persönlichkeitsstörung bei Frauen und narzisstisch und antisozial häufiger bei Männern gestellt werden. Erwähnenswert ist auch, dass trotz der entwickelten Testinstrumente die direkte psychiatrische Untersuchung zu den validesten Ergebnissen führt.

Die Häufigkeit der Persönlichkeitsstörung ist 5- 10 % der Normalbevölkerung, aber 40 % bei psychiatrischen Diagnosen. Betroffene haben eine schlechtere Schulbildung, wobei Impulsivität und Aggressivität mit dem Alter zurückgeht, zwanghafte und introvertierte Verhaltensweisen im Alter eher schlimmer werden.

Prof. Fiedler weist auch immer wieder darauf hin, dass die Diagnose Persönlichkeitsstörung auch eine Stigmatisierung der Betroffenen sein kann, weshalb er den Vorschlag macht, stattdessen von Persönlichkeitsstilen zu reden oder sie als Beziehungsstörungen zu klassifizieren.

Er selbst stellt die Frage: Sind Persönlichkeitsstörungen nichts anderes als ein schwer systematisierbarer Bereich individueller Verschiedenheit? Es ist eine Sichtweise aus der Störungsperspektive mit dem Versuch, Menschen in prototypisch angelegte Klassifikationsmuster einzuordnen. Ist es nicht besser ein Kompetenzdefizit zu diagnostizieren?

Wichtig ist auch sein Hinweis, dass der Zeitgeist und die Gesellschaft bei der Kategorisierung eine bisher wenig untersuchte, aber wichtige Rolle spielen. Der Zeitgeist entscheidet zwischen der Normalität und Abweichung. Auch die gesellschaftliche Bewertung unterliegt Verzerrungen: Den Dieb auf der Straße wird man anders bewerten, als den Börsenmakler, der Milliarden verspekuliert.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich bei dem vorliegenden Buch um ein äußerst komplexes Standardwerk handelt, das zu Recht in der 6. Auflage vorliegt. Die aktuellen Forschungsergebnisse sind genauso wie die historischen eingearbeitet.

Dem Laien ist dieses Buch leider nicht zu empfehlen, da es in der Ausführlichkeit und Komplexität ein fundiertes Vorwissen und eine fachliche Kompetenz voraussetzt. Für Psychologen und Fachärzte ist es aber sicherlich ein sehr wertvolles, lesenswertes Buch.

Auch die Frage nach Ressourcenorientierung, Resilienz, positiven Persönlichkeitsmerkmalen und was ein gelungenes Leben ausmacht, werden angesprochen. Wir fragen uns doch immer noch viel zu wenig, was eigentlich positive Persönlichkeitsmerkmale sind: Bewältigungskompetenz, Offenheit, Selbstwirksamkeit und so ganz am Rande wird die Liebesfähigkeit gestreift. Ist dies nicht eine ganz wichtige Kompetenz, die wir in der Psychotherapie sowieso viel zu oft außer Acht gelassen haben?

Wir sollten uns öfter Autoren wünschen wie Prof. Fiedler, die nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit und Publikationen am Ende ihres Buches schreiben:

„Die Klassifikationssystematiken im Bereich der Persönlichkeitsstörungen sind als antiquierte Systeme im Wandel und Übergang zu bewerten“.

Hochachtung für so viel Demut und Bescheidenheit!

Dr. Astrid Neuy-Bartmann
neue AKZENTE Nr. 97/2014