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Nahrungsmittelinduzierte ADHS-Symptomatik (2)

von Renate Meyer, aktualisiert Februar 2023

Nahrungsmittelunverträglichkeiten 

Ursächlich für nahrungsmittelinduzierte ADHS-Symptome können sein:

Nahrungsmittelallergien 

Nahrungsmittelallergien entstehen durch Immunreaktionen. Im Prinzip kann jedes Nahrungsmittel oder Nahrungsmittelbestandteil eine allergische Reaktion auslösen. So sind z.B. alleine bei der Milch ca. 25 verschiedene Eiweiße bekannt, von denen gegen jedes Einzelne eine Allergie bestehen kann. Generell wird zwischen 6 verschiedenen Allergietypen unterschieden, wobei nur die folgenden bei Nahrungsmitteln bedeutsam sind:

  • Typ I Allergie (IgE-Antikörper-vermittelte Sofortreaktion)
  • Typ III Allergie (IgG-Immunkomplex-vermittelte Reaktion)
  • Typ IV Allergie (T-Zell-vermittelte Entzündungsreaktion vom Spättyp)

Die klassische allergische Reaktion des Soforttyps (Typ I) gehört zu den häufigsten Formen der Nahrungsmittelallergien und unterliegt IgE-vermittelten immunologischen Reaktionen Aus noch nicht gänzlich geklärten Gründen werden die antikörperproduzierenden B-Zellen zu einer falschen Antikörperbildung angeregt. Anstelle der Immunglobuline M und G wird das Immunglobulin E (IgE) gebildet. Dieses IgE bindet sich über bestimmte Rezeptoren an die Mastzellen (ein Zelltyp im Bindegewebe). Durch beim Allergiker vorhandene große Mengen an IgE werden die Mastzellen wiederum dazu veranlasst, im Übermaß bestimmte Botenstoffe, wie u.a. das Histamin freizusetzen. Der schnelle Ablauf dieser Reaktionen führt zu den Krankheitssymptomen der IgE-vermittelten Sofortreaktionen.

Nahrungsmittelallergien folgen aber nicht unbedingt dem Typ der Sofortreaktion, so werden auch IgG-vermittelte Reaktionen beschrieben, die erst nach Stunden oder Tagen auftreten. Die Typ III Allergie ist dadurch gekennzeichnet, dass nicht IgE, sondern Antikörper der Klasse IgG beteiligt sind. Es werden Antigen-Antikörper-Komplexe gebildet, die als Immunkomplexe im Blut zirkulieren, bei deren Beseitigung durch die sog. Fresszellen umliegendes Gewebe stark geschädigt werden kann. Typische Auslöser für Typ III Allergien sind Schimmelpilze. Der Stellenwert von IgG-Antikörpern zum Nachweis von Nahrungsmittelunverträglichkeiten wird derzeit sehr kontrovers diskutiert und gem. der Studie von Pelsser et al (2011) erscheint es auch nicht als sinnvoll, eine Eliminationsdiät auf Basis einer IgE- und auch IgG-Testung durchzuführen.

Bei der Typ IV Allergie liegt eine Reaktion der T-Lymphozyten vor. Hier sind Botenstoffe (Zytokine) und nicht Antikörper für die Beschwerden verantwortlich, die 24-72 Stunden nach Kontakt auftreten können.

Für die Diagnose von Nahrungsmittelallergien gibt es jedoch keine hundertprozentig sichere Testmethode. Darüber hinaus erfasst der Prick-Test (Aufbringen kleinster Mengen von Testflüssigkeiten auf die Haut des Unterarms) und der RAST-Test (ein Labortest der untersucht, ob das Blut des Patienten auf isolierte Allergene reagiert) oder der Läppchentest (bei dem auf die Rückenhaut allergenhaltige Läppchen aufgeklebt werden) nur die Typ I Allergien durch das zirkulierende und an Mastzellen gebundene IgE und damit nur einen Typ der möglichen Immunantworten.

Voraussetzung für viele Menschen, eine allergische Erkrankung zu bekommen, ist eine ererbte Fähigkeit, Antikörper zu bilden. Neben dieser Disposition ist für eine Antikörperbildung aber auch erforderlich, mit dem jeweiligen Stoff (meist dann auch länger) Kontakt gehabt zu haben. Dabei kann auch bereits eine Sensibilisierung stattgefunden haben, ohne dass der Betroffene schon Krankheitszeichen verspürt. Weitere Faktoren, wie die Menge der Allergenzufuhr oder das Auftreten von Begleiterkrankungen wie z.B. Infekte oder andere Umstände, die den Organismus vorübergehend schwächen (wenig Schlaf, psychischer Stress, eine nicht intakte Darmflora und vieles anderes mehr), können eine Wegbereiterfunktion für eine Allergie einnehmen.
Auch eine zu frühe Antigenzufuhr im Säuglingsalter (z.B. durch Kuhmilchprodukte nach dem Abstillen) ist ein Faktor, der eine Nahrungsmittelallergie begünstigt.

Arte-Dokumentation:
Milch ein Glaubenskrieg https://www.youtube.com/watch?v=zr-jRleOirg

Nahrungsmittelintoleranzen

Laktoseintoleranz (Milchzuckerunverträglichkeit): Die Ursache einer Laktoseintoleranz ist ein Enzymdefekt, der angeboren, durch Begleiterkrankungen von Darmkrankheiten erworben sein kann oder bei dem die Enzymaktivität aus bisher unbekannten Gründen mit zunehmendem Alter unwiederbringlich abnimmt. Der Organismus der Betroffenen produziert eine zu geringe Anzahl an Laktase-Enzymen, die zur Verdauung der Laktose im Darm benötigt werden. Durch die im Dünndarm nicht oder auch vermindert stattfindende Fermentierung durch Laktase-Enzyme gelangen die Milchzuckermoleküle in unverändertem Zustand in den Dickdarm und werden von den dort befindlichen Bakterien vergärt. Die Abbauprodukte aus diesem chemischen Prozess sind für das Beschwerdebild der Laktoseintoleranz (vielfältige Beschwerden des Verdauungstraktes, die als typisch für das Reizmagen-Syndrom gelten und eine große Anzahl unspezifischer Beschwerden wie z.B. chronische Müdigkeit, Gliederschmerzen, Kopfschmerzen, depressive Verstimmungen, innere Unruhe, Konzentrationsstörungen, Schlafstöungen etc.) verantwortlich.

https://reizdarm.one/erkrankungen/laktoseintoleranz/
 

Intestinale Fructoseintoleranz (Fruchtzuckermalabsorption, die immer von der hereditären Fructoseintoleranz, einer seltenen erblichen Stoffwechselkrankheit abgegrenzt werden muss): Der Fructosemalabsorption liegt ein defektes Transportsystem im Dünndarm zu Grunde. Dieses kann ererbt oder auch auf eine gestörte Darmflora zurückzuführen sein. Dadurch wird die aufgenommene Fructosemenge im Dünndarm nur unzureichend resorbiert und es treten hohe Konzentrationen von Fructose vom Dünndarm in den Dickdarm über, die von den dort befindlichen Bakterien ebenfalls vergärt werden. Auch hier entsteht, je nach Art und Menge der Dickdarmbakterien ein chemischer Prozess, dessen Abbauprodukte für die Beschwerden der Fructosemalabsorption verantwortlich sind. Das Vorkommen der Fructosemalabsorption wird in der Bevölkerung der Zivilisationsländer sehr hoch eingeschätzt, wobei nur bei der Hälfte der Betroffenen Beschwerden auftreten. Die Beschwerden ähneln denen der Laktoseintoleranz, wobei auf Grund eines mit der Fructosemalabsorption scheinbar ursächlich in Zusammenhang stehenden Zink-, Folsäure und Tryptophanmangels ein vermehrtes Auftreten von depressiven Symptomen und auch ein geschwächtes Immunsystem beobachtet wurden.

Sorbitintoleranz: Die Sorbitmalabsorption ist häufig mit der Fructosemalabsorption vergesellschaftet, kann aber auch isoliert hiervon auftreten. Die Beschwerden ähneln denen der Laktoseintoleranz und Fructosemalabsorption. Sorbit ist ein sechswertiger Zuckeralkohol, der in vielen Früchten vorkommt, aber auch als Zuckeraustauschstoff bei der Herstellung von zuckerfreien Süßigkeiten Verwendung findet.

https://reizdarm.one/erkrankungen/fructoseintoleranz/

http://fructoseintoleranz.com/die-symptome-der-fructoseintoleranz/
 

Histamin-Intoleranz: Unverträglichkeit von mit der Nahrung aufgenommenem Histamin oder anderer biogener Amine (z.B. in Schokolade), deren Ursache ein Mangel des Enzyms Diaminoxidase (DAO) oder ein Missverhältnis zwischen Histamin und der DAO ist. Das mit der Nahrung aufgenommene Histamin wird beim Durchtritt durch die Darmschleimhaut durch die dort sitzende DAO abgebaut. Die DAO ist ein empfindliches Enzym, das von verschiedenen Substanzen wie z.B. Alkohol oder Medikamenten gehemmt werden kann oder was bei entzündlichen Darmerkrankungen vermindert sein kann. Hohe Histaminwerte sind z.B. in Nahrungsmitteln enthalten, die bei ihrer Herstellung einer bakteriellen Fermentation unterliegen oder zu einem raschen mikrobiellen Verderb neigen.
Weiterhin können Histaminfreisetzungen durch Nahrungsmittel erfolgen, die Histaminliberatoren enthalten (z.B. in Erdbeeren, Zitrusfrüchten, Tomaten).
Viele der alltäglichen Nahrungsmittel können erhebliche Mengen an Histamin enthalten, der Substanz, die bei allen Soforttypallergien als Hauptmediator (Hauptentzündungsstoff) eine zentrale Rolle spielt.

https://www.histaminintoleranz.ch/de/einleitung.html
 

Die Diagnose der Laktoseintoleranz, Fructose- und Sorbitmalabsorption wird durch einen H2-Atemlufttest, durch den bereits kleinste Mengen an malabsorbierten Zuckern auf Grund der Wasserstoffausscheidungen erfasst werden, gesichert. Die Feststellung einer Histamin-Intoleranz erfolgt durch Messung des Histamin-Spiegels und DAO-Spiegels im Blut.
 

Pseudoallergien

Von Pseudoallergien spricht man, wenn es ohne die Vermittlung von Immunglobulinen zu einer überschießenden Reaktion kommt, dennoch werden Botenstoffe wie Histamin aus den Mastzellen freigesetzt, die zu ähnlichen Symptomen wie bei einer »echten« Allergie führen. Dies ist vor allem bei Nahrungsmittel-Zusatzstoffen, Pestizidrückständen, bei Bestandteilen von Medikamenten und Nahrungsmitteln mit hohem Salizylsäuregehalt der Fall.
Es wird vermutet, dass genetische Polymorphismen den Histaminabbau bei ADHS beinträchtigt, was die Vielfalt der Reaktionen auf Zusatzstoffe bei ADHS erklären könnte (Stevenson et al 2010).

https://www.gesundheit.gv.at/krankheiten/stoffwechsel/nahrungsmittelunvertraeglichkeit/pseudoallergien

https.//www.zusatzstoffe-online.de

 

Opiat-Peptide aus Kasein und Gluten

Als auslösende Faktoren für Verhaltensauffälligkeiten werden auch Peptide aus Kasein und Gluten diskutiert.
Bei einer Untergruppe von Betroffenen mit Autismus und auch ADHS konnten mit verschiedenen Studien im Urin Peptid-Fragmente aus dem unvollständigen Abbau von Kasein und/oder Gluten nachgewiesen werden, welche auf einen genetischen, epigenetischen oder toxischen Effekt auf Schlüsselenzyme der Peptidspaltung hindeuten.Es handelt sich hierbei also um eine Proteinintoleranz und nicht um eine Allergie.
Durch eine unvollständige enzymatische Spaltung aus in Nahrungsmittel-Proteinen vorhandenen Polypeptiden entstehen kurze Ketten von Aminosäuren (Exorphine aus Glutenin, Gliadin und Kasein), die nur durch diesen Vorgang freigesetzt und damit überhaupt aktiv werden können.
Bei diesen bioaktiven Peptid-Sequenzen wird davon ausgegangen, dass sie sich an die Opiat-Rezeptoren des Gehirnes binden und damit Einfluss auf die Neurotransmitterfunktion nehmen.

Die Gehirn-Darm-Achse bei neurologischen und psychiatrischen Störungen:

Kalle Reichelt,  Die Gehirn-Darm-Achse bei neurologischen und psychiatrischen Störungen

 

Zöliakie und Nicht-Zöliakie-Weizensensivität

Die Aktualisierte S2k-Leitlinie Zöliakie der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauung- und Stoffwechselkrankheiten DGVS vom Dez. 2021 führt in ihrer Leitlinie in Kapitel 1 (Seite 797) aus, dass sich die Zöliakie mit einer hohen Variabilität an intestinalen und extra-intestinalen Symptomen und Zeichen manifestieren oder auch gänzlich ohne Symptome bleiben kann, weshalb man die Zöliakie auch das „Chamäleon der Gastroenterologie“ bezeichnet. 

Es gibt kein Leitsymptom, das nahelegt an eine Zöliakie zu denken, weshalb primär die differentialdiagnostischen Überlegungen breit geführt und somit relativ häufig an eine Zöliakie gedacht werden soll.

In den Tab. 1.1 und 1.2 ist unter Neurologie, Psychiatrie u.a. die Aufmerksamkeit-/Hyperaktivitätsstörung aufgeführt, bei der es starker Konsens ist, eine Zöliakie differentialdiagnostisch zu erwägen.

Bei einer Nicht-Zöliakie-Weizensensivität (NCWS) werden verschiedene Stoffe als Auslöser diskutiert (S2k-Leitlinie Zöliakie ab Seite 841). Hierbei reagiert der Körper auf Gluten oder andere Bestandteile im Weizen mit sehr unspezifischen intestinalen und extra-intestinalen Symptomen, ohne dass eine Zöliakie oder Weizenallergie vorliegt. Die Diagnostik der NCWS erfordert den Ausschluss einer Zöliakie und Weizenallergie und das Ansprechen auf eine glutenfreie Ernährung. Als Ursache kommen u.a. die mit dem Gluten assoziierten Amylase-Trypsin-Inhibitoren in Betracht, welche zu einer Aktivierung des angeborenen Immunsystems führen.

https://register.awmf.org/assets/guidelines/021-021l_S2k_Zoeliakie_2022-05.pdf


Weitere Faktoren

Nahrungsmittelallergien und –unverträglichkeiten können aber auch als Folge eines Mangels an Salzsäure im Magen oder an Verdauungsenzymen (wie z.B. der Bauchspeicheldrüsenenzyme) auftreten und auch durch Veränderungen des Darm-Microbioms ausgelöst werden.

Informationen zum Darm-Microbiom sowie zur Darm-Hirn-Achse:

Nutritional psychiatry: Towards improving mental health by what you eat, European Neuropsychopharmacology, Volumne 20, Issue 12, December 2019, Pages 1321-1332
Unter 8.: die Bedeutung des Darm-Microbioms
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0924977X19317237?via%3Dihub

Ärztezeitung „Microbiom noch Jahre nach Antibiose verändert“
https://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/asthma/article/946429/menschliche-bakterienflora-mikrobiom-oft-noch-jahre-nach-antibiose-veraendert.html

 

Ernährungspsychiatrie, Mikrobiota-Darm-Gehirn-Achse und Psychobiotika

https://www.universimed.com/at/article/psychiatrie/ernährungspsychiatrie-mikrobiota-darm-gehirn-achse-psychobiotika-183184

Mikrobiom, Krankmacher im Bauch:

https://www.spektrum.de/news/mikrobiom-wie-darmbakterien-das-gehirn-krank-machen/1849954

Antibiose bei Säuglingen fördert die Entwicklung von Allergien, Übergewicht und ADHS: 

https://www.medical-tribune.de/medizin-und-forschung/artikel/antibiose-bei-saeuglingen-foerdert-die-entwicklung-von-allergien-uebergewicht-und-adhs

Gut mycobiome dysbiosis and its impact on intestinal permeability in attention-deficit/hyperactivity disorder: 

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/37016804/

 

Literatur:

Thomaz FS Bastiaanssen, Caitlin SM Cowan, Marcus J Claesson, Timothy G Dinan, John f Cryan. Making Sense of ... the Microbiome in Psychiatry. Int J Neuropsychopharmacol 2019 Jan; 22(1): 37-52 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6313131/

Prof. Gregor Hasler (Psychiater, Psychotherapeut): Die Darm-Hirn Connection, Revolutionäres Wissen für unsere psychische und körperliche Gesundheit, Schattauer, ISBN-13: 978-3608400021

Scott C. Anderson, John F. Cryan, Ted Dinan: The Psychobiotic Revolution: Mood, Food and the New Science of the Gut-Brain Connection, National Geographic, Nov. 2017, ISBN-13:978-1426218460
 

 

Direkter Link zu:

Nahrungsmittelinduzierte ADHS-Symptomatik (1)

Nahrungsmittelinduzierte ADHS-Symptomatik (3)

Hypoglykämien, Umweltgifte und Mikronährstoffdefizite