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Zauberwürfel mit pinkem Hintergrund

Die Begleiterkrankungen bei ADHS (assoziierte Störungen oder Komorbiditäten)

von Dr. Astrid Neuy-Lobkowicz

Es erstaunt, warum erst in den letzten Jahren die Bedeutung der ADHS im Erwachsenenalter erkannt wurde. Heute wissen wir, dass 50-70 % der schon seit ihrer Kindheit betroffenen ADHS-Patienten im Erwachsenenalter noch deutliche Symptome aufweisen. Zunehmend wird deutlich, dass ADHS ein Risikofaktor für die meisten psychiatrischen Symptome im Erwachsenenalter sind.

Es ist anzunehmen, dass ADHS-Patienten vulnerabler, d.h. verletzbarer sind. Dies kann zum einen genetische Gründe haben, sicher sind es aber auch Sekundäreffekte, denn ein ADHS-Kind hat meist viele negative Erfahrungen im Laufe seines Lebens gemacht und musste sich mit häufiger Ablehnung und eigenem Versagen auseinandersetzen. Meist hat ein ADHS-Kind in seiner Entwicklung viel Stress erlebt, und all diese Erfahrungen haben es verhindert, ein gesundes und stabiles Selbstwertgefühl aufbauen zu können. Gerade aber die Selbstzweifel und Selbstunsicherheit sind wieder ein Risikofaktor für Ängste, Depressionen und psychosomatische Störungen.

Je genauer die Lebensläufe der ADHS-Patienten wissenschaftlich untersucht werden, desto deutlicher wird es, dass es im Laufe der Entwicklung und im Erwachsenenalter zu einem sogenannten Symptomshift kommt, was bedeutet, dass die Symptome sich im Laufe des Lebens verändern und dann eben nicht mehr der Zusammenhang mit ADHS erkannt wird.

Im Kindesalter sind die Begleiterkrankungen gut erforscht. So haben die folgenden Erkrankungen ein gehäuftes Auftreten im Zusammenhang mit ADHS:

  • Leserechtschreibstörung bis zu 30% der Fälle
  • Rechenstörung bis zu 30% der Fälle
  • Ticsyndrom (Tourette) 10 - 20%
  • Autismusspektrumstörung  in 10-15% der Fälle
  • Zwänge
  • hohe Unfallrate (durch unüberlegtes Handeln)
  • Störung des Sozialverhaltens und oppositionelle Verhaltensweisen
  • (und daraus resultierend eine höhere Rate von Straffälligkeit und Schulabbrüchen)
  • Schlafstörungen


Im Erwachsenenalter zeigt sich dann der Symptomwandel:

  • Bis zu 50 % der erwachsenen ADHS-Betroffene entwickeln im Laufe ihres Lebens eine Angststörung und/ oder Depressionen. Hier müssen sowohl die Ängste und Depressionen wie auch das ADHS behandelt werden. Oft werden im Erwachsenenalter nur diese sogenannten Begleiterkrankungen festgestellt und das darunterliegende ADHS nicht erkannt. Das hat zur Folge, dass die ADHS Symptome weiter unbehandelt bleiben und eventuell auch die Angststörung und Depression nicht zufriedenstellend behandelt werden kann.
  • Zwangsstörungen: Bei Auftreten von Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen wird das ADHS sehr häufig übersehen, weil die Betroffenen ja gerade äußerst genau und perfektionistisch sind. Es ist aber kein Widerspruch, dass Zwang und Chaos bei ADHS nebeneinanderstehen kann. Es kann auch sein, dass ADHS-Betroffene im Chaos versinken und dann versuchen perfektionistisch aufzuräumen bis sie wieder von ihrem eigenen Chaos eingeholt werden. Die aktuelle Erklärung dafür ist, dass ADHS-Betroffene auf Grund ihrer leidvollen Erfahrung mit ihrer Vergesslichkeit und ihren Flüchtigkeitsfehlern kompensatorisch übergenau sind und sie sich ständig kontrollieren müssen. Dadurch werden sie sehr umständlich, zäh und langsam, was ihnen erneut Stress verursacht.
  • Psychosomatische Symptome oder Somatisierungsstörungen, auch körperliche Erkrankungen, die eine seelische Ursache haben, treten gehäuft bei der ADHS auf. Diese können sich im Zusammenhang mit einer Depression entwickeln oder auch neben anderen Symptomen stehen.
  • Aber auch rein körperliche Erkrankungen treten bei ADHS gehäuft auf. ADHS-Betroffene leiden doppelt so häufig unter Bluthochdruck und dreimal so häufig unter Typ 2 Diabetes.  Der Bluthochdruck wird auch häufiger entgleisen, wenn sich Wutanfälle und Impulsivität häufen oder auch ein Diabetes ist schlechter einstellbar, wenn die Stimmungen ständig schwanken. Noch dazu schaffen ADHS-Betroffene es oft auch nicht ihre Medikation zuverlässig einzunehmen, die sie benötigen und damit haben sie einen schlechteren Krankheitsverlauf. Darüber hinaus gibt es auch Erkrankungen, die häufiger in Verbindung mit ADHS vorkommen, ohne dass es bisher eine Erklärung dafür gibt. Hier sind z. B. die Allergien, Schuppenflechte, Reizdarmsyndrom, entzündliche Darmerkrankungen und Nahrungsmittelallergien zu nennen. Auch Fibromyalgie ist häufiger, ebenso wie Migräne. Auch sind alle Formen der Essstörungen bei ADHS häufiger mit Ausnahme der Magersucht. Besonders Adipositas (Übergewicht) ist bei ADHS dreimal häufiger anzutreffen als in der Normalbevölkerung.

 

  • Schlafstörungen, Unfähigkeit sich zu entspannen, Restless Leg Syndrom. Wie bei den Kindern auch, findet man im Erwachsenenalter häufiger Ein- oder auch Durchschlafstörungen. Weiterhin fällt es Betroffenen oft schwer abzuschalten, Ruhe zu finden und sich zu erholen. Sie bleiben angespannt, nervös, gereizt und explosiv, selbst wenn ihre Umwelt Erholung und Muße zulassen würde. Eine neue Erkenntnis besagt, dass 25% der Erwachsenen, die an einem Restless Leg Syndrom leiden auch von einer ADHS betroffen sind.
  • Suchtentwicklung: 20-30% der Suchtpatienten haben eine unerkannte ADHS und betreiben ihren Suchtmittelmissbrauch als gescheiterte Selbstbehandlung. (vgl. Heßlinger, Freiburg; Huss, Berlin). Es zeigt sich oft auch ein erheblicher Nikotinmissbrauch, weil Nikotin auch am Dopamintransporter angreift und so das ursächliche Dopamindefizit korrigiert wird. Bei ADHS-Patienten beginnt die Sucht häufig auch früher und der Substanzmissbrauch ist ausgeprägter. Weiterhin zeigen sich vermehrt alle Formen der Sucht: Esssucht, Kaufsucht, Kleptomanie, Spielsucht, Computersucht, Internetsucht usw. Der ADHS-Patient hat meist zeitlebens ein Problem damit etwas maßvoll zu tun und die eigene Mitte zu finden.
  • Es zeigt sich auch eine vermehrte Unfallgefährdung, denn 5 % der erwachsenen ADHS-Betroffene verunfallen tödlich oder aber beenden ihr Leben mit Suizid. Der Suizid ist ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Nicht alle ADHS-Patienten sind vorher depressiv, sondern es kann wegen der hohen Impulsivität und der heftigen Reaktionen und Gefühlsschwankungen in Krisensituationen zu Suiziden bzw. zu Suizidversuchen kommen.
  • Persönlichkeitsstörungen: Als Risikofaktor oder aber resultierend aus den Erfahrungen in der Kindheit und der Herkunftsfamilie treten häufiger Persönlichkeitsstörungen auf. Hier ist die emotional-instabile Persönlichkeit zu nennen (Borderlinestörung), die enorme Überschneidungen mit der ADHS aufweist. Zurzeit wird diskutiert, ob nicht ein großer Anteil der Borderlinestörungen des impulsiven Typs unerkannte ADHS-Betroffene sind und als solche behandelt werden sollten (hier kommt es immer darauf an nachzuweisen, dass diese Symptome schon in der Kindheit bestanden haben). Es zeigt sich auch noch ein gehäuftes Vorliegen von antisozialen Persönlichkeitsstörungen, die ein höheres Risiko haben später dissozial zu werden. Auch narzisstische Persönlichkeitsstörungen werden häufiger beobachtet.

 

Erhebliche Probleme haben ADHS-Betroffene meist auch in den folgenden Bereichen:

  • Nicht selten kann es zu Arbeits- und Beziehungskonflikten kommen, dies auf Grund der hohen Impulsivität, der mangelnden Kritikfähigkeit, der Zerstreutheit und der Weigerung von vielen ADHS-Betroffenen Dinge zu tun, die keinen Spaß machen bzw. zuverlässig Verantwortung zu übernehmen und sich den Pflichten des Lebens zu stellen. Die Scheidungsrate ist deutlich erhöht.
  • Auch in den Familien kann es nicht selten zu schweren Auseinandersetzungen bis hin zu körperlicher Gewalt kommen. Da die ADHS auf Grund der hohen Erblichkeit oft bei mehreren Familienmitgliedern vorhanden ist, kann sich dort ein hochexplosives Konfliktpotential zeigen. Ferner kann es zu Kindesmisshandlungen kommen, insbesondere wenn die Eltern ebenfalls von ADHS betroffen sind, das Kind über Tage oder Wochen schreit und die Eltern um den Schlaf bringt. Hier kann es zu Überforderungssituationen von Seiten der Eltern kommen, die dann das Kind schütteln oder schlagen, obwohl sie normalerweise nicht gewalttätig sind. z. B. Alleinerziehende, die nur wenig Unterstützungssysteme haben, können in solchen Situationen an ihre eigene Belastungsgrenze kommen. Es kann zu plötzlichen Suizidhandlungen kommen oder aber zu unkontrollierten Gefühlsausbrüchen gegenüber dem eigenen Kind, bis hin zu Misshandlungen. ADHS-Betroffene sind nicht gewalttätig, aber unter Stress können sie die Kontrolle verlieren und dann impulsiv und kopflos handeln.
  • Manchmal sind die Betroffenen auch sehr verschuldet, weil sie keinen Überblick über ihre Finanzen haben und sich keinen Plan machen können.
  • Wir finden die ADHS gehäuft auch unter den Langzeitarbeitslosen, denn ADHS-Betroffene haben oft einen schlechteren Schulabschluss, als es ihrer Intelligenz entsprechen würde. Nicht selten haben sie sogar überhaupt keinen Schulabschluss, was sie nur schwer vermittelbar macht. Auch haben manche ADHS-Betroffene nur wenig Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Sie geben schnell auf, lassen sich schnell entmutigen, und mit ihrer Hypersensibilität fühlen sie sich häufig sehr schnell ungerecht behandelt. Es gelingt ihnen oft auch nicht Misserfolge wegzustecken und Niederlagen als Chancen zu begreifen. Stattdessen resignieren sie, zeigen sich beleidigt und ziehen sich zurück.
  • Auch neigen manche Betroffene dazu riskant Auto zu fahren oder riskante Sportarten zu betreiben, weil sie immer nach dem ultimativen Kick und nach Abwechslung suchen. Es sind die Menschen, die mit 200 km/h auf die Stoßstange des Vordermanns auffahren, weil dieser nicht rechtzeitig Platz macht.

Zusammenfassend kann man sagen, dass sich Probleme in den folgenden Bereichen zeigen:

  • Selbstorganisation
  • Zeitmanagement
  • Finanzmanagement
  • Beziehungsgestaltung
  • Arbeitsorganisation
  • Teamfähigkeit
  • Kindererziehung
  • Straßenverkehr

Es ist sehr wichtig, eine ADHS zu erkennen und sowohl die ADHS als auch Begleiterkrankungen zu behandeln. Gerade die Symptome der ADHS erfordern eine fundierte Kenntnis des Krankheitsbildes, Behandlungserfahrung und Wissen über das Auftreten der Begleitstörungen. Es ist notwendig eine störungsspezifische Behandlung der ADHS durchzuführen, die auf die besondere Problematik der ADHS abgestimmt ist.

Der Erfolg oder Misserfolg bei der Behandlung dieser Krankheitsbilder hängt von der richtigen Diagnosestellung und einer leitliniengerechten Behandlung ab. Dies gilt für die medikamentöse ebenso wie für die psychotherapeutische Behandlung. So wissen wir heute, dass die Symptome der ADHS mit dem Wirkstoff Methylphenidat und Dexamphetamin sehr gut zu behandeln sind und diese ist auch nach den Leitlinien für ADHS immer empfohlen, wenn die Diagnose zweifelsfrei gestellt wurde. Oft müssen sowohl die Komorbiditäten, wie auch die ADHS gesondert behandelt werden.

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