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Das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne Hyperaktivität

... und seine Besonderheiten bei der Diagnostik und Therapie

von Dr. Helga Simchen, Mainz

Wann sollte man an ein ADS ohne Hyperaktivität denken und welche Symptome weisen in ihrer Summe bei Kindern und Jugendlichen darauf hin?

  1. Die Betroffenen sind unkonzentriert bei Routineaufgaben und im Alltag, sie können ihre Daueraufmerksamkeit nicht aufrecht halten, ermüden und langweilen sich schnell.
  2. Sie haben alle eine diskrete motorische Unruhe, sind immer mit den Händen oder Füßen in Bewegung, aber dabei weniger auffällig als die Hyperaktiven.
  3. Sie sind ständig ablenkt, da ihr Gehirn viel zu viel Informationen aufnimmt.
  4. Stellt man ihnen Fragen, finden sie nicht schnell die passende Antwort, was ihre Mitarbeit in der Schule erschwert.
  5. Sie können sich mit Worten nicht schnell genug und sozial angepasst verteidigen, sie reagieren deshalb mit Rückzug und Kränkung.
  6. Sie fühlen sich schnell angegriffen und reagieren besonders unter Stress überschießend (zu empfindlich, zu impulsiv), was andere verunsichert und nicht verstanden wird.
  7. Sie haben motorische Probleme beim Schreiben, drücken zu sehr auf, können Linien nicht einhalten, ihre Buchstaben und Zahlen sind eckig, ihr Schriftbild unharmonisch, Druckschreibschrift gelingt ihnen besser.
  8. Die Verarbeitung von Informationen erfolgt langsam und ungenau, da die dazu notwendigen Nervenbahnen nicht auseichend entwickelt sind.
  9. Handlungsabläufe und Lerninhalte automatisieren sich deutlich mühsamer.
  10. Ihr Arbeitsgedächtnis ist schnell überlastet, deshalb werden Informationen zwar gehört, aber nicht abgespeichert und somit wieder vergessen.
  11. Sie haben immer viele Gedanken und Bilder im Kopf und verfügen über eine blühende Phantasie, weshalb sie leicht in ihre eigene Gedankenwelt abgleiten.
  12. Sie haben einen großen Gerechtigkeitssinn und sind sehr hilfsbereit.
  13. Sie können sich aber auch sehr gut konzentrieren, wenn etwas für sie spannend und interessant ist, dann vergessen sie alles um sich herum und können sich stundenlang dieser Beschäftigung hingeben (z.B. Spielen mit Legosteinen und Puppen).
  14. Für gefühlsbetonte Informationen haben sie ein „Elefantengedächtnis“.
  15. Sie sind sehr sensibel, gefühlsmäßig labil und weinen leicht.
  16. Sie regen sich schnell über Kleinigkeiten auf, sind schnell gekränkt und fühlen sich dann gleich ungeliebt und missverstanden.
  17. Sie machen stundenlang Hausaufgaben, ihr Arbeitstempo ist viel zu langsam.
  18.  Sie entwickeln schnell Versagensängste und Schuldgefühle.
  19. Sie können Menschen und Situationen gut durchschauen.
  20. Sie können sehr gut kreativ denken, dadurch finden sie in kritischen Situationen schnell die besten Lösungen.
  21. Sie haben ein „Schwarz-Weiß-Denken“, ihre Stimmung schwankt schnell zwischen „himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt“.

Das Erscheinungsbild des ADS ohne Hyperaktivität

Das hypoaktive Kind ist eher ruhig, verträumt, es kann dem Unterricht nur schwer folgen und sitzt stundenlang an seinen Hausaufgaben. Trotz guter oder sehr guter Intelligenz hat es schlechte Noten. Spätestens in der dritten oder vierten Klasse, wenn es die Probleme in der Rechtschreibung oder im Rechnen nicht mehr kompensieren kann, zeigt dieses Kind Schulunlust, Albträume, Versagensängste und Selbstwertprobleme. Sein Arbeitstempo ist zu langsam, alles bemühen hilft nichts, es resigniert und beginnt psychisch zu leiden. Psychosomatische Beschwerden, wie Bauch- oder Kopfschmerzen, Einnässen signalisieren dringenden Handlungsbedarf.

Oft wird die Ursache dieser Beschwerden lange nicht erkannt oder gar nicht erst gesucht, „es verwächst sich“, eine häufige, aber folgenschwere Erklärung. Anfangs sind diese Kinder sehr therapiemotiviert, mit zunehmender Belastung resignieren sie. Sie fühlen sich unverstanden und ausgegrenzt. Damit es nicht so weit kommt, sind Frühdiagnostik und Frühbehandlung sehr wichtig.

Denn das ADS ist eine fassettenreiche Persönlichkeitsvariante mit vielen Vorteilen von denen man nur profitieren kann, wenn Selbstwertgefühl und soziale Kompetenz nicht in ihrer Entwicklung zurückbleiben, ansonsten wird es zur psychischen Erkrankung werden.

Die Diagnostik des ADS ohne Hyperaktivität:

Sie setzt neurologische, entwicklungspsychologische und psychiatrische Kenntnisse voraus. Hinweisend sind immer mehrfache Wahrnehmungsstörungen und eine deutliche Differenz zwischen der intellektuelle Ausstattung und den trotz Fleiß persönlich enttäuschenden Schulerfolgen, immer öfter gelingt vieles schlechter als erwartet.

Eine ausführliche Anamnese weist immer auf eine direkte familiäre Veranlagung oder auf deren ADS-bedingten Folgen hin („gescheitert“ in der beruflichen Entwicklung, Drogenprobleme, Depressionen, Zwangsstörungen, Alkoholismus, Suizide). In der frühkindlichen Entwicklung sind Verzögerungen in der motorischen und sprachlichen Entwicklung häufig. Danach folgen Auffälligkeiten im Kindergarten, wie Rückzugs- und Regressionstendenzen, ferner in der fein- und grobmotorischen Entwicklung und in der Lernfähigkeit. Die meisten Kinder malen und basteln nicht gern! Immer sind die emotionale Steuerungsfähigkeit, die Daueraufmerksamkeit und die Merkfähigkeit belastungsabhängig beeinträchtigt.

Sehr kluge Kinder können durch ihre gute Intelligenz Defizite lange kompensieren. Entscheidend ist, wie stark ihre ADS-Problematik und die Anforderungen sind und wie sich dieses Kind vom sozialen Umfeld akzeptiert und anerkannt fühlt.

Wegen der großen Bedeutung der Frühdiagnose möchte ich die wichtigsten Symptome, die ein hypoaktives Kind im Kindergarten zeigt, hervorheben:

  • Es ist ruhig und brav, manchmal ängstlich und sehr anhänglich.
  • Es ist sehr empfindlich und weint leicht, zieht sich schnell zurück.
  • Seine Sprache ist manchmal undeutlich und leise, es stammelt oder hat Schwierigkeiten einige Konsonanten auszusprechen; bei Unsicherheit benutzt es Babysprache.
  • Es spielt am liebsten in der Bau- oder Puppenecke allein und hat nur eine/n festen Freund(in).
  • Es kann im Stuhlkreis nicht lange zuhören, beginnt zu träumen und wird motorisch unruhig.
  • Es malt und bastelt nicht gern, es sollte aber dazu angehalten werden.
  • Es drückt den Stift viel zu sehr auf.
  • Es vergisst viel und versteht manches erst gar nicht.
  • Es ist feinmotorisch ungeschickt, es stolpert leicht.
  • Es hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ist sehr eifrig bei sozialen Diensten.
  • Es nässt manchmal tagsüber noch ein.
  • Es regt sich schnell auf und verhält sich oft zu Hause ganz anders als im Kindergarten.

Säulen der Diagnostik:

  • Körperliche Untersuchung
  • neurologische Untersuchung mit EEG
  • Entwicklungsdiagnostik mit Suche nach Verhaltens- und Teilleistungsstörungen
  • Überprüfen aller Wahrnehmungsbereiche, der Motorik und deren mangelnden Lernzuwachs trotz gezielter Förderung
  • Leistungsdiagnostik mit Entwicklungs- und Intelligenztesten
  • psychologische Diagnostik mit der Suche nach reaktiven Fehlentwicklungen
  • Bewusstmachen und Erkennen von Ressourcen
  • Familien- und Schulanamnese

Das manifeste Bild eines ADS beinhaltet immer eine mehr oder weniger ausgeprägte Störung in den Bereichen:

  • kognitive Fähigkeiten,
  • motorische Funktionen,
  • Gefühlssteuerung und Verhaltensbildung.

Besonderheiten des ADS ohne Hyperaktivität

Seine Diagnose wird vorrangig nicht mittels Punktwerten von Tabellen gestellt, sondern aus der Lebensgeschichte, der Familienanamnese, der Schullaufbahn, der gründlichen neurologischen, psychiatrischen und psychologischen Untersuchung, der Beobachtung des Kindes und der Schwere seiner Entwicklungsbeeinträchtigung. Nur eine frühzeitige Diagnose ermöglicht eine rechtzeitige Behandlung ohne bleibende psychische Beeinträchtigung. Nur so kann man verhindern, Entwicklungsphasen ungenutzt zu durchlaufen und dass es zu Defiziten kommt, die nicht wieder oder nur ganz schwer aufzuholen sind.

Bei ausgeprägter Symptomatik sollte die Diagnose schon vor der Einschulung gestellt werden, um mit einer rechtzeitigen Behandlung zu verhindern, dass sich dieses hypoaktive Kind gleich nach der Einschulung schon als Versager erlebt.

Sehr intelligente Kinder und Jugendliche können ihre ADS bedingte Beeinträchtigung oft über viele Jahre kompensieren. Die Umgebung registriert erst viel zu spät, wie diese Kinder und Jugendlichen eigentlich leiden. Niemand ahnt ihren hohen Selbstanspruch. Manchmal weisen erst depressive Verstimmungen, massive Ängste, Zwänge oder Panikattacken mit Blackout-Reaktionen auf ein ADS als deren eigentliche Ursache hin.

Ähnliche Krankheitsbilder

Bei der Diagnostik des ADS sollte auch nach Krankheitsbildern mit teilweise ähnlicher Symptomatik gesucht werden, die aber auch kombiniert mit einem ADS vorkommen können, wie

  • intellektuelle Minderbegabung
  • Folgen einer Schädigungen in der Schwangerschaft, unter der Geburt oder durch Frühgeburt
  • chromosomale Schäden (Fragiles X-Syndrom)
  • Folge verwöhnender Erziehung mit wenig Anstrengungsbereitschaft und erlernter Hilflosigkeit
  • Funktionsstörungen der Schilddrüse (Unterfunktion)
  • Angststörungen und depressive Erkrankungen
  • posttraumatische Störungen (organisch als auch psychisch bedingt)
  • Zustand nach schweren Gehirninfektionen
  • Epilepsiebedingte Anfallsformen (Absencen)
  • Trennungsproblematik mit schweren familiären Konflikten

Therapie

Die Therapie sollte eine ganzheitliche sein, die das Kind mit seinen psychischen, schulischen und organischen Problemen, seine Familie, sein soziales Umfeld, seine vielen positiven Fähigkeiten mit einbezieht. Nach eingehender Diagnostik wird mit den Kindern und deren Eltern ein individuelles Förder- und Therapieprogramm erstellt. Die Therapie erfolgt problembasiert und persönlichkeitsorientiert mit dem

Ziel: Verbesserung des Selbstwertgefühls und der sozialen Kompetenz

In folgenden Stufen:

  • Beratung und Aufklärung der Eltern und des Kindes über das ADS mit seinen speziellen Vor- und Nachteilen
  • Strukturierung und Konsequenz in der Erziehung
  • Verhaltenstherapeutische Begleitung
  • Lerntherapie mit dem Ziel der Ausbildung von Gedächtnisbahnen, um den Lernprozess zu automatisieren
  • Medikamentöse Unterstützung durch Gabe von Psychostimulanzien oder/, wenn erforderlich
  • Anleitung der Eltern als Coach, um ihrem Kind oder Jugendlichen zu helfen, die erreichte psychische Stabilität zu erhalten und sich eine Lebensperspektive zu geben

Die hypoaktiven Kinder und Jugendlichen kommen oft sehr spät in ärztliche Behandlung, meist haben sie einen langen Leidensweg hinter sich. Nicht selten drohte die Schullaufbahn zu scheitern, trotz guter Intelligenz. Viele Therapien mussten sie oft über sich ergehen lassen ohne den gewünschten Erfolg. Dadurch konnten Entwicklungsphasen nicht optimal genutzt werden, Defizite im Lern- und Leistungsverhalten entstanden, die Betroffenen blieben in ihrer sozialen Reife zurück.

Sozialer Reiferückstand

Hinweise auf einen sozialen Reiferückstand sind:

  • Mangel an Mut, eigene Forderungen zu stellen.
  • Probleme soziale Kontakte zu knüpfen und sie aufrecht zu halten.
  • Angst, Fehler zu machen und kritisiert zu werden.
  • Sich von anderen nicht abgrenzen und lösen zu können, nicht nein sagen können.
  • Um von anderen anerkannt zu werden, machen sie, was von ihnen verlangt wird.
  • Sie wagen nicht zu widersprechen, auch wenn es berechtigt wäre.
  • Kein vorausschauendes Denken und Handeln möglich, sie sind Gefangene des Augenblicks

Nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen können ein ADS ohne Hyperaktivität haben, daran wird noch zu wenig gedacht. Denn bei den männlichen Betroffenen dominiert nicht so sehr die Verhaltensstörung, sondern die Lernstörung. Besonders häufig sind Lese-Rechtschreib- und Rechenschwäche. Erfolgloses Üben mit ständig sich wiederholenden Enttäuschungen führt zur psychischen Beeinträchtigung mit oft großem Leidensdruck. Viele flüchten dann in die irreale Welt der Medien, die ihr Gehirn stimuliert und süchtig machen können.

Coaching durch die Eltern

Behandlung bedeutet Mitarbeit des Kindes und seiner Eltern, Ausdauer und Geduld, Verständnis und Konsequenz machen das Erreichen gestellter Therapieziele möglich. Vieles, worum sich das Kind bisher erfolglos bemühte, gelingt ihm dann. Erst Erfolge wecken seine Freude an der Schule und am Lernen. Es erlebt erstmalig die lang ersehnte Anerkennung von Seiten der Lehrer und Mitschüler.

Das Besondere an der Therapie von Kindern und Jugendlichen mit ADS ohne Hyperaktivität ist, dass diese Kinder anfangs ständig motiviert werden müssen, bis sie sich selber durch Erfolge motivieren können. Gelingt das nicht, fallen sie nach anfänglicher Mitarbeit wieder in ihre alten Verhaltensweisen zurück. Die Eltern sagen dann: „Das Medikament wirkt nicht mehr“. Aber das Medikament allein schafft ohne aktive Mitarbeit des Kindes und seiner Eltern keine wesentliche Verbesserung von Verhalten und Leistung. Die Eltern müssen vom Therapeuten für eine erfolgreiche verhaltens- und lerntherapeutische Begleitung angeleitet werden, um für ihr Kind die Funktion des Co-Therapeuten oder des Coach übernehmen zu können.

Begleit- und Folgeerkrankungen

Auch das ADS ohne Hyperaktivität wird von verschiedenen Begleit- und Folgeerkrankungen begleitet, die mit in die Behandlung einzubeziehen sind, diese aber manchmal erheblich erschweren.

Solche ADS-begleitenden Erkrankungen sind:

  • Psychosomatische Beschwerden (Kopf- oder Bauchschmerzen)
  • Schlafstörungen
  • Einnässen / Einkoten
  • Magen-/Darmbeschwerden
  • Essstörungen
  • Stammeln und Stottern
  • Tics
  • Drogenkonsum
  • Ängste, Zwänge und depressive Verstimmungen
  • Essstörungen: Anorexie, Bulimie, Frustessen
  • Stressbedingte Schwächung des Abwehrsystems mit häufigen Infekten und Allergien

Die große Bedeutung der Eltern für einen dauerhaften Therapieerfolg:

Zur erfolgreichen Behandlung von ADS-Kindern braucht man informierte, psychisch stabile und zuverlässige Eltern für die Funktion des Co-Therapeuten. Gerade das hypoaktive Kind braucht einen Coach, einen "motivierenden Trainer" über mehrere Jahre und dabei sind seine Eltern unersetzbar.

Da sich das ADS vererbt, ist nicht selten ein Elternteil selbst betroffen. Leider ist die Symptomatik des ADS bei Erwachsenen in Deutschland bisher nur wenigen bekannt. Die Praxis zeigt immer wieder, selbst betroffene Eltern können bei der Behandlung ihrer Kinder mit ADS zum zusätzlichen Problem werden und müssen manchmal zuerst oder mitbehandelt werden. Sonst erschweren sie - natürlich ungewollt - die Behandlung, da sie selbst unkonzentriert, mit sich unzufrieden, innerlich und oft auch äußerlich voller Unruhe sind. Ihr Erziehungsstil ist inkonsequent, ihr Verhalten nicht immer vorbildlich. Dadurch können sie ihren betroffenen Kindern nicht immer den nötigen Halt geben.


P.S.:

Krankheitsverläufe und Schicksale von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ADS ohne Hyperaktivität habe ich in den folgenden Büchern ausführlich beschrieben, die im Kohlhammer Verlag erschienen sind:

  • ADS Unkonzentriert, verträumt, zu langsam und viele Fehler im Diktat - Hilfen für das hypoaktive Kind
  • Die vielen Gesichter des ADS; Begleit- und Folgererkrankungen richtig erkennen und behandeln
  • Kinder und Jugendliche mit Hochbegabung
  • Verunsichert, ängstlich, aggressiv - Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen - Ursachen und Folgen
  • Essstörungen und Persönlichkeit; Magersucht, Bulimie und Übergewicht, Warum Essen und Hungern zur Sucht werden